1. Einleitung: Die Frage, die alles aufreißt
Was sind die dunkelsten Wahrheiten über uns selbst? Welche Masken tragen wir – nicht vor anderen, sondern vor uns selbst? Wie viele unserer Verhaltensweisen sind tatsächlich Ausdruck unserer Persönlichkeit – und wie viele sind Schutzmechanismen, Überlebensstrategien aus einer Zeit, in der wir uns nicht anders zu helfen wussten?
Diese Fragen haben uns nicht losgelassen. Wir, Sascha und Sarah, leben beide mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung – einer Störung, die oft mit intensiven Gefühlen, instabilen Beziehungen und tiefen inneren Spannungen einhergeht. Wir sind kreativ, lieben Musik und Worte, basteln an Podcasts und Songs – und manchmal auch an Illusionen.
Wir haben gelernt, dass es einen Unterschied gibt zwischen Ausdruck und Flucht, zwischen Echtheit und Inszenierung. Und dass es Mut braucht, sich diese Unterscheidung ehrlich einzugestehen. Dieser Text ist kein Manifest über „richtiges Verhalten“ – sondern eine Einladung zur radikalen Selbstbegegnung.
Lektion: Der erste Schritt zur Heilung ist, sich selbst nicht länger aus dem Weg zu gehen.
2. Die Masken, die wir tragen
🎭 Maske der Kontrolle – Sascha
Die Maske der Kontrolle entsteht oft aus Angst vor emotionalem Chaos. Wenn alles einen Plan hat, scheint es sicher. Doch das Sicherheitsgefühl ist trügerisch – es verhindert echte Nähe und macht verletzliches Teilen schwer.
Zitat: „Ich perfektioniere – weil ich Angst habe, nicht zu genügen.“
Beispiel: Als unser erster Podcast nicht den gewünschten Anklang fand, habe ich sofort angefangen, die Struktur zu überarbeiten, neue Mikrofone zu testen und ein technisches Konzept zu schreiben – anstatt über meine Enttäuschung zu sprechen.
Lösung: Lerne, bewusst Raum für Unordnung zuzulassen. Anstatt sofort ins Handeln zu gehen, halte inne und frage dich: „Was fühle ich gerade?“ Teile diese Unsicherheit mit Menschen, die dir nahestehen. Das entzieht der Maske ihre Macht.
🎭 Maske der Überfunktionalität – Sarah
Diese Maske suggeriert, dass dein Wert von deiner Leistung abhängt. Du funktionierst – um dich selbst als würdig zu empfinden. Doch das raubt dir das Recht, einfach nur zu sein.
Beispiel: In schwierigen Momenten zwischen uns beginne ich fast zwanghaft, an neuen Songs zu arbeiten, als müsste ich beweisen, dass ich „es wert bin“, hier zu sein.
Lösung: Übe dich in Nicht-Leistung. Plane bewusst Zeiten ein, in denen du „nichts gibst“ – außer deiner bloßen Anwesenheit. Stelle dir die Frage: „Würde ich mich auch lieben, wenn ich heute nichts beisteuere?“
🎭 Maske der Inszenierung – wir beide
Inszenierung schützt vor Angriffen, denn sie schafft Distanz zur wahren Verletzlichkeit. Doch sie kann auch verhindern, dass echte Begegnung geschieht. Kunst wird dann zur Bühne, nicht zum Spiegel.
Zitat: „Wenn ich eine Rolle spiele, kann niemand das zerbrechliche Original angreifen.“
Beispiel: Während einer besonders intensiven Auseinandersetzung über Nähe und Angst entstanden mehrere künstlerisch starke Bilder – aber wir sprachen erst Tage später wirklich über das, was passiert war.
Lösung: Nutzt eure Kunst nicht nur zur Flucht, sondern als Brücke. Erlaubt euch, Kunstwerke zu schaffen, die unperfekt, roh und nur für euch sind. Sprecht zuerst miteinander, dann gestaltet.
3. Unsere blinden Flecken
🕳️ Kreativität als Flucht
Die Flucht in kreative Arbeit kann subtil sein: Sie gibt das Gefühl von Produktivität und Tiefe, während sie in Wirklichkeit ein Ausweichen ist – vor echten Gesprächen, vor unangenehmen Emotionen.
Beispiel: Wenn einer von uns weint, greift der andere oft instinktiv zur DAW oder zu Textbausteinen, statt einfach da zu sein.
Lösung: Beobachte dein Timing. Frage dich: „Gestalte ich gerade, weil ich fühle – oder um nicht zu fühlen?“ Schaffe Rituale, in denen du zuerst fühlst und dann formst.
🕳️ Offenheit als Selbstverletzung
Zu viel Offenheit kann zum Akt der Selbstentblößung werden – eine Wiederholung alter Verletzungen unter dem Deckmantel der Authentizität. Manchmal ist Zurückhaltung gesünder.
Beispiel: Ein Blogeintrag über Selbstverletzung ging online, bevor wir beide wirklich darüber gesprochen hatten. Die Reaktionen waren stark – aber innerlich fühlten wir uns entblößt.
Lösung: Teile erst, wenn das Thema innerlich stabilisiert ist. Etabliere die Regel: „Öffentlichkeit erst nach Verarbeitung.“ Nutze einen Vertrauten als Resonanzfläche vor der Veröffentlichung.
🕳️ Nähe als Co-Abhängigkeit
Intensive Nähe kann zum Ersatz für Selbstregulation werden. Wenn man das eigene Gleichgewicht nur durch den anderen findet, entsteht emotionale Abhängigkeit – und Erschöpfung.
Beispiel: Wir verbrachten Wochen fast ohne Pause miteinander – jede Trennung führte zu Panik. Erst eine geplante „Ich-Zeit“ brachte wieder Luft in die Beziehung.
Zitat: „Gemeinsam durchbrennen klingt romantisch – kann aber auch gemeinsam untergehen bedeuten.“
Lösung: Führt bewusste Ich-Zeiten ein – als Pflege der Beziehung, nicht als Bedrohung. Vereinbart Pausen als liebevolle Praxis, nicht als Rückzug. Nähe bedeutet auch, Distanz aushalten zu können.
4. Das Bild, das uns gespiegelt hat
Wir haben ein Bild generieren lassen: ein Cyborg mit aufgebrochenem Brustpanzer neben einer Figur, die ein anatomisches Herz hält. Beide leuchten – dort, wo sie beschädigt sind. Es war keine zufällige Auswahl, sondern ein intuitives Erkennen: Das sind wir. Nicht idealisiert, nicht retuschiert – sondern symbolisch ehrlich.
Sascha ist der Cyborg. Außen Technik, Logik, Kontrolle. Innen: ein leuchtender Riss, durch den die Verletzlichkeit hervortritt. Der Panzer ist nicht das Problem – sondern die Unfähigkeit, ihn manchmal zu öffnen.
Sarah ist die Anatomin. Außen weich, aber präzise. Innen eine tiefe, oft schmerzhafte Verbindung zum eigenen und fremden Gefühlsleben. Sie hält das Herz nicht, um es zu besitzen – sondern um es zu verstehen.
Die Verbindung zwischen beiden: Kein Griff, kein Ziehen, kein Klammern – sondern ein gegenseitiges Erkennen. Nicht trotz, sondern wegen der Risse.
Symbolik: Unsere Defekte sind nicht unser Ende. Sie sind der Anfang von echter Verbindung.

Beispiel: Als wir dieses Bild sahen, wurde uns schlagartig klar, wie stark wir uns gegenseitig spiegeln – nicht in Perfektion, sondern in Brüchigkeit. Wir haben lange gedacht, dass wir uns gegenseitig „reparieren“ müssen. Das Bild zeigte uns: Wir dürfen einfach nur da sein – mit unseren Brüchen. Und manchmal entsteht genau daraus etwas Schönes.
Problem: Oft versuchen Menschen, in der Beziehung eine „perfekte Einheit“ zu bilden. Sie wollen Stärken addieren und Schwächen tilgen. Doch so entsteht keine Beziehung – sondern ein Leistungsmodell. Das Bild erinnert uns daran, dass wahre Intimität dort entsteht, wo niemand mehr etwas beweisen muss.
Lösung: Betrachtet eure symbolischen Rollen regelmäßig neu. Macht aus dem Bild ein Ritual: Hängt es auf. Schaut es euch bewusst an. Fragt euch: „Bin ich heute eher Panzer oder Herz?“ Sprecht darüber. Nicht bewertend, sondern teilend. Das Bild lebt mit euch. Es erinnert daran, dass Verbindung durch Verletzlichkeit entsteht – und dass wahre Stärke darin liegt, den eigenen Riss nicht zu verstecken, sondern leuchten zu lassen.
5. Wie man sich begegnet – trotz Borderline
Grenzen verschwimmen schnell. Nähe wird schnell zu Verschmelzung. Besonders bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung kann die Angst vor Verlassenwerden und das starke Bedürfnis nach Nähe dazu führen, dass man sich selbst im Anderen verliert. Was wie tiefe Verbindung wirkt, ist manchmal emotionale Abhängigkeit im Tarnmantel.
Gleichzeitig ist emotionale Offenheit extrem wichtig – aber wenn sie zu performativ wird, also nur dazu dient, Nähe zu sichern oder Konflikte zu vermeiden, verliert sie ihre Echtheit. In solchen Momenten geht es nicht mehr um Verbindung, sondern um Kontrolle über die Beziehung.
Beispiel: Früher endeten Konflikte in Rückzug oder Eskalation. Einer verschwand emotional oder körperlich, der andere drängte nach. Heute üben wir, in solchen Momenten zu sagen: „Ich bin gerade überfordert, aber ich geh nicht weg.“ Das ist nicht einfach – aber es verändert alles.
Zitat: „Du darfst da bleiben, auch wenn du mich gerade nicht retten kannst.“
Lösung:
- Emotionale Notfallpläne entwickeln: Besprecht im Vorfeld, was in Krisensituationen hilft. Das kann eine Vereinbarung sein wie: „Wir reden erst nach 30 Minuten wieder“ oder „Wir schreiben, wenn Sprechen zu schwer ist.“
- Trigger bewusst machen: Erkennt wiederkehrende Muster, z. B.: „Wenn du dich zurückziehst, fühle ich mich verlassen.“ Und benennt das, ohne Schuldzuweisung.
- Pausen enttabuisieren: Zeit allein ist kein Angriff auf die Beziehung. Vereinbart bewusste Auszeiten mit dem klaren Signal: „Ich ziehe mich zurück, weil ich dich liebe – nicht weil ich gehe.“
- Radikale Langsamkeit: In intensiven Momenten ist weniger oft mehr. Statt Lösungen: Präsenz. Statt Antworten: Zuhören. Statt Drama: Stille.
Beispiel: Nach einem Streit verbrachten wir einen Abend schweigend nebeneinander. Nur eine Hand auf dem Rücken des anderen. Keine Analyse. Keine Klärung. Aber am nächsten Morgen war Nähe wieder möglich – ohne Worte.
Lektion: Nähe entsteht nicht durch ständige Verbindung – sondern durch das Aushalten von Distanz ohne Zerreißen. Wer sich in Stille begegnen kann, muss sich nicht mehr beweisen.
6. Der Weg zur Schattenarbeit
Schattenarbeit heißt: bewusst das Unangenehme anschauen. Nicht analysieren, sondern fühlen. Nicht bewerten, sondern benennen. Ein Prozess, der Mut braucht – und Stille. Sie beginnt oft da, wo wir sonst weggucken: bei den unliebsamen Gedanken, bei der Schuld, bei der Wut, bei der Scham. All das, was wir sonst lieber unterdrücken oder mit Aktionismus überspielen.
Stattdessen gilt: hinschauen, wahrnehmen, annehmen. Ohne Filter. Ohne Zensur. Ohne sofortige Lösung.
Wir führen ein Schatten-Tagebuch. Fragen uns:
- Welche Maske trage ich heute?
- Was fühle ich wirklich?
- Welche Wahrheit will ich nicht sehen?
Beispiel: Nach einem Streit schreibt jeder für sich eine Seite, die nicht veröffentlicht wird. Nur für uns. Und dann lesen wir uns vor, was wir sehen – und was wir nicht sehen wollten. Manchmal entsteht aus diesen Gesprächen eine neue Nähe, ein Verstehen auf tieferer Ebene, das ohne den schriftlichen Spiegel nicht möglich gewesen wäre.
Problem: Viele Menschen denken, Schattenarbeit sei destruktiv oder führe nur zu Schmerz. Doch das Gegenteil ist der Fall: Wer seinen Schatten kennt, wird nicht von ihm kontrolliert. Verdrängung hingegen lässt alte Muster weiterwirken – unbewusst und oft zerstörerisch.
Lösung: Ritualisiert die Schattenarbeit. Sucht euch ruhige Räume, feste Zeiten. Redet vorher ab, was geschützt bleibt. Und: Verzichtet auf Bewertung. Schatten wollen gesehen, nicht gelöscht werden. Ihr könnt dazu ein gemeinsames Ritual einführen – z. B. „Schatten-Sonntag“, bei dem ihr euch eine Stunde Zeit nehmt, zu schreiben, zu lesen und vielleicht ein Symbol dafür zu finden, was euch in dieser Woche begleitet hat.
Lektion: Nicht jede Dunkelheit ist gefährlich – manche ist einfach nur unbeachtet. Und genau dort liegt euer größtes Entwicklungspotenzial.
7. Fazit: Unsere Risse sind nicht unser Ende
Wenn wir uns die Masken abnehmen, bleiben wir nicht leer zurück. Wir bleiben wir. Und wir leuchten – nicht weil wir perfekt sind, sondern weil wir echt sind.
Wir haben gelernt: Unsere größten Schmerzen sind nicht unsere Schwächen, sondern oft unsere Türen zu echtem Wachstum. Es sind nicht die glatten, polierten Flächen, in denen wir uns erkennen – sondern die Risse. Genau dort, wo es weh tut, entsteht Raum für Verbindung, Tiefe und Entwicklung.
Beispiel: Als wir begannen, über unsere gegenseitigen Trigger zu sprechen – ohne Schuldzuweisungen, ohne Analyse – sondern nur aus dem Wunsch, verstanden zu werden – entstand ein neuer, ungeahnter Raum der Nähe. Kein Idealbild, sondern ein echtes Miteinander.
Das bedeutet nicht, dass wir „fertig“ sind. Wir werden immer wieder ins Stolpern kommen. Masken wieder aufsetzen. Uns verlieren. Aber jetzt wissen wir: Der Weg zurück beginnt mit einem ehrlichen Blick – auf den eigenen Schatten, auf den Schmerz, auf das Ungesagte.
Lösung: Erlaubt euch, nicht fertig zu sein. Seht eure Beziehung – ob zu euch selbst oder zu anderen – als fortlaufenden Prozess. Nicht als Ziel, sondern als Bewegung. Und feiert kleine Schritte: das erste ehrliche Gespräch nach einem Rückzug. Die Pause, die nicht aus Angst, sondern aus Fürsorge genommen wurde. Den Moment, in dem ihr einander zuhört, ohne euch gegenseitig zu retten.
Lektion: Manchmal beginnt Liebe erst dort, wo die Show aufhört – und das echte Leben anfängt, mit all seiner Zartheit, seinem Chaos und seinem Mut.
Von Sascha & Sarah
Weiterführende Impulse
📘 Buchtipp: „Radikale Akzeptanz: Der Schlüssel zu innerer Stärke und Selbstheilung“ von Marie Ehlers *
🎧 Podcast: „Leise Stille – Borderline verstehen 1“
🎶 Song dazu: „Durch die Risse“ von Raumwelle
🧾 Transparenzhinweis:
Die Links enthalten Affiliate-Tags – das bedeutet, wenn du über diese Links bestellst, bekomme ich eine kleine Vergütung. Für dich entstehen keine Mehrkosten. Danke, dass du meine Arbeit unterstützt!
📚 Glossar: Fachbegriffe im Kontext von Persönlichkeit & Beziehung
🧠 Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)
Eine psychische Störung, bei der Betroffene unter stark schwankenden Emotionen, einem instabilen Selbstbild und intensiven, oft konflikthaften Beziehungen leiden. Häufig treten Angst vor dem Verlassenwerden, Impulsivität und Probleme mit der Emotionsregulation auf.
🎭 Persönlichkeitsmaske
Ein psychologischer Schutzmechanismus, bei dem Menschen bewusst oder unbewusst ein bestimmtes Verhalten zeigen, um Anerkennung zu erhalten oder Verletzlichkeit zu vermeiden. Die Maske schützt, verhindert aber oft echte Nähe.
🕳️ Blinder Fleck
Ein unbewusster Persönlichkeitsanteil, den man selbst nicht wahrnimmt, der aber für andere sichtbar ist. Oft sind das Verhaltensweisen, Schutzstrategien oder emotionale Muster, die automatisch ablaufen.
🌘 Schattenarbeit
Ein Konzept aus der Tiefenpsychologie, das auf Carl Gustav Jung zurückgeht. Es bezeichnet die bewusste Auseinandersetzung mit verdrängten, unangenehmen oder „verbotenen“ Persönlichkeitsanteilen, um sich selbst ganzheitlich zu verstehen.
🌀 Co-Abhängigkeit
Ein Beziehungsmuster, bei dem das eigene emotionale Gleichgewicht stark vom Befinden des Partners abhängig ist. Oft wird die eigene Identität zugunsten des „Funktionierens für den anderen“ unterdrückt.
🎨 Kreativität als Vermeidung
Der Mechanismus, emotionale Themen durch kreative Tätigkeit zu umgehen – etwa durch Kunst, Schreiben oder Musik – ohne sich den zugrundeliegenden Gefühlen direkt zu stellen. Oft eine gut getarnte Form der Verdrängung.
🧷 Trigger
Auslösereize (z. B. Worte, Verhaltensweisen, Erinnerungen), die eine intensive emotionale Reaktion hervorrufen, oft aus früheren Erfahrungen gespeist. In Beziehungen mit BPS sind Trigger besonders häufig und intensiv.
💬 Radikale Ehrlichkeit
Ein Ansatz, bei dem man sich selbst und anderen gegenüber möglichst offen und ungefiltert kommuniziert – nicht verletzend, sondern klar, respektvoll und ohne Maske. Ziel ist echte Verbindung statt sozialer Rollen.
💡 Notfallplan (emotional)
Eine gemeinsam entwickelte Strategie, wie man in emotional belastenden Momenten handelt, ohne sich oder andere zu überfordern. Dazu gehören Regeln für Rückzug, Kommunikation oder Selbstberuhigung.